Lönne Ratzow stirbt in der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2021, er wird nur 7 Monate alt. Wer sich fragt, warum der Junge nicht mehr lebt, stellt fest: Eigentlich ist unvorstellbar, was an jenem Abend auf einem Hof in Schleswig-Holstein geschieht. Eigentlich – denn am Ende des Rettungseinsatzes ist das jüngste Kind von Familie Ratzow tot.

„Er hatte doch nur einen Fieberkrampf“, sagt Martje Ratzow, Lönnes Mama. Ihr Sohn stirbt nicht am Fieberkrampf, sondern weil das Rettungsteam schwerwiegende Fehler macht, als es zu Lönnes Behandlung kommt.

Deshalb haben Lönnes Eltern, Hire a Paramedic und FaktorMensch die Initiative #DenkAnLönne ins Leben gerufen. Gemeinsam treten sie für eine bessere Notfallversorgung von Kindern ein und appellieren an die Verantwortung aller, die im Rettungsdienst arbeiten.

So verlief der Einsatz

21:26 Uhr

Fieberkrampf & Notruf

Lönne hat am Morgen die U5-Untersuchung mit Bravour gemeistert. Doch am Abend bekommt er Fieber, wahrscheinlich eine Impfreaktion. Lönne krampft, seine Eltern wählen den Notruf. Doch sie sind relativ ruhig: Lönne hat zwei größere Geschwister, ihr ältester Sohn hatte auch schon einen komplizierten Fieberkrampf. Damals half der Rettungsdienst rasch, das Kind kam in die Universitätskinderklinik – die Familie fühlt sich gut versorgt und informiert.

21:44 Uhr

Eintreffen RTW

Die Leitstelle hat einen Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug entsandt. Der RTW trifft zuerst auf dem Hof von Familie Ratzow in Klein Zecher ein. Der Notfallsanitäter gibt Diazepam rektal.

21:50 Uhr

Entkrampft

Der NotSan hat versucht, die Rektiole zu fraktionieren, die 2. Portion führt dazu, dass Lönne entkrampft.

21:51 Uhr

Eintreffen NEF

Das Notarzteinsatzfahrzeug kommt auf dem Hof an. Zunächst geht nur der Notfallsanitäter zur Familie, er ist selbst in der Ausbildung aktiv. 

Lönne liegt zur Überwachung und Untersuchung auf dem Küchentisch.

21:58 Uhr

Eintreffen Notarzt

Der Notarzt trifft in der Küche ein. Der 57-Jährige nimmt seit rund drei Jahrzehnten Notarztdienste wahr und unterhält eine Hausarztpraxis. 

21:59 Uhr

EKG & weitere Behandlung

Lönne hat einen GCS von 13, ist mit der Überwachung verbunden, das Corpuls-EKG unterstreicht den entkrampften Zustand. Der Notarzt möchte für den Transport in die Uni-Klinik Lübeck (ca. 45 Minuten) einen Venen-Zugang legen, der Versuch scheitert. 

Obwohl Lönne stabil scheint, entscheidet sich der Arzt für einen intraossären Zugang, eine Bohrung in den Knochen. 

„Nach allem was wir wissen, lag dafür keine Indikation vor“, so Daniel Marx von FaktorMensch. 

Das sah offenbar auch der NotSan des NEF so. Die Eltern erinnern sich an seinen Ruf nach einem „ten for ten“ (Team-Ressource-Management: 10 Sekunden für 10 Minuten). Er erhält keine Reaktionen seiner Kolleg:innen – und wird den Ausruf vor Gericht bestreiten. 

Unsere Taschenkarte Speak-up (PDF)

Gegen 22:15 Uhr

Der i.o.-Zugang

Lönne wehrt sich dagegen, dass ihm eine Nadel in den Schienbeinknochen gelegt wird. Auch sein Vater, der assistieren soll, fühlt sich unwohl, doch er denkt: „Hier sind vier Rettungsdienstler, da würde ja jemand etwas sagen, wenn es falsch wäre.“

Der Notarzt spült den Zugang mit 10 ml Kochsalz und lässt Lidocain aufziehen: Der NotSan des NEF folgt der Anweisung und bereitet eine 5-ml-Spritze mit 2%igem Lidocain vor.

Aus dieser Spritze heraus will der Arzt 10 mg Lidocain dosiert haben – die Menge ist drei Mal höher als damals empfohlen. Gutachten legen nahe, dass Lönne tatsächlich noch mehr Lidocain über die 5-ml-Spritze bekommen hat.

Nun krampft Lönne. Der Notarzt gibt daraufhin insgesamt 3 mg Midazolam – erneut eine Überdosierung.

22:22 Uhr

Letzter regulärer Herzschlag

In der Überwachung zeigt Lönne zum letzten Mal eine reguläre Herzaktion, etwa eine Minute zuvor hat sich seine Frequenz halbiert. Martje und Niklas Ratzow werden vom Rettungsteam aus der Küche geschickt. Weitere Unterstützung fordert das Team nicht an.

22:22–22:45 Uhr

Torsaden

Die Daten des Überwachungsgeräts, ein moderner C3 von Corpuls, zeigen starke Auffälligkeiten, laut C3 liegt die Herzfrequenz bei 160. 

Viel spricht dafür, dass es sich um sog. Torsades de Pointes handelt – sie wären typisch für eine Vergiftung mit Lidocain. Dennoch lassen sich auch Reanimationsartefakte nicht zu 100% ausschließen, erscheinen jedoch unwahrscheinlich: Wer drückt permanent mit einer 160er Frequenz? Und wieso tauchen die Artefakte im weiteren Verlauf der Reanimation nie wieder auf?

Währenddessen versucht die Leitstelle mehrfach vergeblich, ihr Rettungsteam zu erreichen. Ihr ist eine Zeitüberschreitung aufgefallen.

22:46 Uhr

Erste CO2-Ableitung

Zum ersten Mal erfolgt eine stabile CO2-Ableitung in der Kapnometrie.

Der Arzt hatte sich für eine endotracheale Intubation des Säuglings entschieden – eine hoch komplexe und riskante Maßnahme, wenn man nicht täglich als Kinder-Anästhesist tätig ist.

Dennoch werden alle Rettungskräfte später von  einer „ordnungsgemäßen und unmittelbaren Reanimation“ sprechen – das Amtsgericht nennt diese Einlassung „teils lebensfern“.

22:59 Uhr

"Frustrane Rea"

Rückmeldung an die Leitstelle: Frustrane Reanimation bei Säugling; Anforderung Notfallseelsorge für Eltern. Man möchte Lönne noch vor Ort für Tod erklären.

Circa 23:10 Uhr

Gespräch mit den Eltern

Martje und Niklas Ratzow stehen noch immer vor der Küchentür, nachhaltig schockiert und verstört: Sie sollen dem Ende der Reanimation zustimmen. Angeblich habe ihr Sohn Erbrochenes aspiriert. Die Eltern verweigern die Zustimmung und bestehen darauf, dass Lönne in die Universitätskinderklinik nach Lübeck (UKSH) gebracht wird.

23:25–23:55 Uhr

Transport Richtung UKSH

Lönne wird mit RTW und Notarzt nach Lübeck verlegt, die CO2-Ableitung zeigt für diese Zeit keine Werte. Welche Reanimationsmaßnahmen während des Transports durchgeführt werden, bleibt unklar. 

23:55 Uhr

Der Kinder-Notarzt

Die Polizei bringt einen Facharzt der Universitätskinderklinik zu einem Treffpunkt mit dem RTW. Dem Pädiater fallen sofort die fehlenden CO2-Werte beim Monitoring auf, er findet den Tubus im Rachenraum vor. Er intubiert neu – ab jetzt stabile CO2-Ableitung. Doch der Kinderarzt findet de facto ein verstorbenes Kind vor: 33° Körpertemperatur, Verfärbungen am Oberkörper, starre Pupillen.

0:21 Uhr

Saures Blut

Beim Eintreffen in der UKSH zeigt die Blutgasanalyse einen ph-Wert von 6,0.

0:41 Uhr

Tod

Die Ärzte der Kinderklinik erklären Lönne Ratzow für tot.

Der Prozess

Der Notarzt nimmt bis zum Urteil im Januar 2024 weiter Dienste in drei verschiedenen Bundesländern wahr. Vom Amtsgericht Ratzeburg wird er der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. Er erhält eine 10-monatige Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Außerdem darf er fünf Jahre nicht mehr als Notarzt tätig werden und muss 10.000 € an ein Kinderhospiz zahlen. Seine Hausarztpraxis kann er weiterführen. Die Verfahren gegen die nicht-ärztlichen Rettungskräfte wurden nach über zwei Jahren eingestellt. 

Eine der ersten Konsequenzen aus Lönnes Tod: Seit dem Dezember 2022 warnt die Bundesärztekammer davor, bei Kindern Lidocain i.o. einzusetzen.  Lidocain bei Kindern sei „abzulehnen, da der Wirkstoff wegen seiner unberechenbaren systemischen Wirkung gefährlich sein kann“. Zu verdanken ist diese Warnung einem der medizinischen Berater von Familie Ratzow. 

Die Regionalzeitung SHZ hat Lönnes Tod in einem umfassenden Beitrag aufbereitet. Die Lektüre lohnt sehr. Der Verlag stellt den Text kostenlos zur Verfügung.

SHZ: „Tod eines Babys“ 

Pädiatrie-Wissen für den Notfall

Nur regelmäßige Fortbildungen und Simulationstrainings im Team machen wirklich fit für Kindernotfälle und andere kritisch kranke Patient:innen, bei denen das Team-Ressource-Management entscheidend ist. Als Erste Hilfe, um Wissen aufzufrischen oder akut Details nachzulesen, haben wir eine Serie kostenfreier Taschenkarten für Rettungskräfte entwickelt.